Ich packe meinen Koffer…

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Bevor er wurde was er heute ist, war er doch eher unansehnlich. Beinah unsichtbar… Ich entdeckte ihn auf einem Flohmarkt, grau-braun und abgewetzt, die Schließen verrostet. Links oben, neben dem Griff, entzifferte ich „Detmold“ und dann noch die Überreste eines Namens, der mit K begann… Sein Innerstes war mit vergilbtem, kariertem Papier ausgeschlagen und er roch nach einer Mischung aus Mottenkugeln und muffigem Keller. Der Verkäufer schien froh über mein Interesse und schenkte ihn mir…

Im ersten Corona Winter nahm ich mich seiner an, lüftete ihn gründlich, entfernte das alte Papier und ging mit ihm auf Tuchfühlung. Solange er noch der alte war, offenbarte er mir meist trostlose Bilder. Von Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern, die einander glichen wie die Koffer in ihrer Hand und aussahen als schleppten sie Wackersteine  – so schwer trugen sie an der Last ihres Lebens. Einmal allerdings, da schlich sich auch das Bild eines kleinen Mädchens in meine Gedanken. Sie schlenkerte das Ding als wöge es nichts, setzte sich sorglos mitten auf einen Bahnsteig, öffnete die Schließen, klappte den Deckel auf und heraus flog ein roter Luftballon…

Mir fiel das Spiel wieder ein: Ich packe meinen Koffer… Früher ein beliebter Zeitvertreib während langer Autofahrten. Jeder hat einen Koffer. Oder einen Rucksack. Was steckt in deinem? Was in meinem? Hast du ihn selbst gepackt? Oder trägst du, was andere dir aufbürden? Was würdest du mitnehmen, wenn du wüsstest du müsstest fort von jenem Ort, der dir Heimat war? Was sind deine Hab-Seligkeiten?

Während meine Gedanken um Koffergeschichten kreisten, bemalte ich ihn zuerst ganz und gar weiß. Zweimal. Damit war das grau-braun neutralisiert und der alte Untergrund für neues Leben bereitet. Dann entschied ich mich ihn in glitzerndes Saphirblau zu hüllen – so blau wie der Himmel an seinen besten Tagen. Die Farbe verlieh ihm Leichtigkeit und meiner Fantasie Flügel. Der Winter war lang. So entstand auf jenem Saphirblau ein ganzes Universum mit seinen Planeten und Bewohnern…

Draußen pfiff der Wind um die Häuser und dunkle Wolken umhüllten unser Tal, als ich mir ausmalte eines Tages liebevolle Erinnerungen aus diesem Koffer zu zaubern. Deine, meine, eure, unsere Geschichten… Mal am Feuer, mal in Schulen, mal in Wohnzimmern und besonders mit Menschen, die trauern. Aus einem wertlosen Gepäckstück wurde ein Schatzkoffer, aus mir Die Lebenserzählerin und “eines Tages” ist längst Wirklichkeit…

 

2 Kommentare

  1. Liebe Gabi, wie schön er geworden ist, der Koffer und Deine Geschichte.
    Es ist mir immer eine Freude von Dir zu lesen.
    ganz lieber Gruß
    Bernadette

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