In der Stadt sieht alles anders aus…

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Seit meinem dreizehnten Lebensjahr ist Baden-Baden meine städtische Lieblingswelt. Hier hab’ ich meine jugendliche Sturm- und Drangzeit erlebt, Abitur gemacht, den Mann meines Lebens gefunden, unsere Tochter zur Welt gebracht. Hier kenn’ ich mich aus und lerne immer wieder Neues kennen.

Über den Dächern der kleinen Weltstadt an der Oos.
Über den Dächern der kleinen Weltstadt an der Oos.

Vor gut 25 Jahren haben Enzo und ich uns entschieden nach anderen Ufern Ausschau zu halten. Wir sind bis in die Südpfalz gekommen. Weit ist das nicht – kilometermäßig betrachtet. Weil ich aber ein Mensch bin, der grundsätzlich eher an Nähe als an Ferne interessiert ist, kommt mir genau diese Tatsache sehr entgegen.
Seit neun Jahren pendle ich zwischen unserem Dorf im Pfälzer Wald und der kleinen Weltstadt an der Oos. Die Verbindung ist nie abgerissen. Teile unserer Familie leben nach wie vor an diesem Ort. Hier gibt es immer wieder Jobs für mich. Viel für den SWR, häufig mit meinem Bruder. Hier finde ich Raum, um eigene Projekte voranzubringen, schreibe und produziere mein erstes Hörbuch („Der Bär, der auf einer Mülltonne saß“), mache Musik, erwerbe einen Taxischein, damit, wenn grad mal alle Stricke zu reißen drohen, immerhin ein Einkommen sicher ist.
Wenn ich aus dem Dorf über den breiten Grenzstrom in der Stadt ankomme und zum ersten Mal wieder in den Trubel eintauche, erregen die rasanten Veränderungen meine Aufmerksamkeit. Laden auf, Laden zu, Nachbarn eingezogen, Nachbarn ausgezogen. Neulich fällt mir auf, wie viele Menschen auf der Straße essen. Smartphone in der linken Hand, belegte Schrippe in der rechten, abbeißen, kauen, Mails checken und zum nächsten Termin hetzen. In der Stadt kriegst du alles „to go“. Bei uns im Dorf gibt’s beim letzten verbliebenen Bäcker mittlerweile auch Kaffee „to go“, aber hier bleibt man mit dem Heißgetränk in der Hand lieber neben der Verkaufstheke stehen und tauscht sich über dörfliche Neuigkeiten aus.
Je mehr Essende mir unterwegs begegnen, desto größer wird mein eigener Heißhunger, der zwingend gestillt werden muss. Angebote gibt es reichlich. Ich entscheide mich diesmal für ein Fischbrötchen. Allerdings suche ich zum Essen eine sichere Bank, weil ich beim gleichzeitigen Laufen und Abbeißen häufig kleckere. Mir fehlt da einfach das Training. Sitzend und kauend kann ich entspannt beobachten. Frauen in Burka zum Beispiel, die mit ihren Männern gerade aus den Vereinigten Arabischen Emiraten angereist sind – Smartphones werden auch in ihren Händen pausenlos bedient, essen unterwegs ist allerdings nicht drin.
Vor lauter Gucken fällt natürlich ein Stück remouladenbeschmierter Backfisch auf mein türkisfarbenes Lieblingshemd. Kleckern gelingt mir auch im Sitzen. Der verbliebene Fettfleck würde mich bei uns daheim kein bißchen stören. Hier allerdings schon. Weil sich viele Menschen in dieser Stadt ganz anders über Äußerlichkeiten definieren, gern nach teuren Parfums riechen, lässig unverkennbar bedruckte Papiertüten teurer Boutiquen in der Hand schwenken und es eine Menge Damen gibt, die mit Mega-High-Heels den aufrechten Gang beherrschen.
Spätestens jetzt wird mir bewusst, dass ich meine abgelatschten Wald- und Wiesenschuhe noch anhabe, meine Jeans am linken Knie bereits fadenscheinig wird und der Wind doch kühler ist, als erwartet. So erwachen weitere Begehrlichkeiten und ich entscheide mich für den Kauf eines Schals. Erstens um mir was Gutes zu tun, zweitens, um den Fettfleck zu bedecken und drittens, der Wärme wegen. Bei uns daheim wär’ das Gute vielleicht ein heißes Bad gewesen. In der Stadt sieht alles anders aus…Ich auch.

6 Kommentare

  1. Eine Stadt ist eben nicht nur ein Wohnort …
    ist Begegnungsstätte, Erlebnispark, Ideen-Automat, Multi-Kulti-Karussell, Schlemmerbude, klecker-klecksisch-backfischgemustertes
    Oberteil …
    und mir wird bewusst, dass ein Schal nicht einfach nur
    ein Halstuch ist …

    Danke für den tollen Beitrag

  2. Dieser Artikel spricht mir aus dem Herzen! Wenn ich schreiben könnte ( kann ich aber nicht so gut) hätte ich es genauso formuliert!
    Toll!

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